Warum wir lästern – und es auch genießen dürfen

Ein besserer Mensch werden

Ich hatte mir mal vorgenommen, ein besserer Mensch zu werden. Um ein besserer Mensch zu werden, muss man, da besser die Steigerung von gut ist, jedoch erst mal ein guter Mensch sein. Ein guter Mensch ist eine Seele von Mensch. Er ruht in sich und ist niemals gemein, weder zu Mensch, noch Tier, noch Pflanze. Er singt den Eichhörnchen Gute-Nacht-Lieder vor, trennt seinen Müll und weint, wenn ein Baum vom Sturm umgeknickt wurde. Ein guter Mensch würde auch niemals lästern, klatschen und tratschen, denn seine Gedanken sind rein und pur und stets eitel Sonnenschein. Ein guter Mensch liebt alle Menschen. So wie sind.

Bin ich denn schon ein guter Mensch?

Schluck. Ich bin jedenfalls verdammt weit davon entfernt, ein guter Mensch zu sein. Denn: Ich gehe die Straße entlang, mir begegnet ein etwas beleibterer Mann, und was denke ich augenblicklich? Ich sage das lieber nicht. Mir begegnet ein Mädchen mit fragwürdigem Outfit, was partout nicht meinem Stilempfinden entspricht, und was denke ich?

Boah, ist die hässlich!

Ich schnappe auf der Straße irgendwelche Gesprächsfetzen von einem Pärchen auf, und was denke ich?

Boah, sind die dumm!

Und so geht das immer und überall und allerortens. Ständig furzt mein Hirn solche destruktiven und fiesen Gedanken in meinen Kopf. Und ich kann nichts dagegen machen. Es denkt mich einfach. Immerhin fällt es mir auf (schon mal ein erster Schritt in die richtige Richtung, um ein guter Mensch zu werden), denn sofort hält das gute Engelchen dem Teufelchen, das vermutlich hinter diesen Stänker-Attacken steckt, den Mund zu. „Pscht“, sagt es dann, „sag sowas nicht, das ist bestimmt ein ganz netter Mensch!“ Ich nenne dieses Phänomen übrigens „internes Lästern“: Das sind die fiesen Gedanken, die man für sich behält.

Wir sind entzückt, wenn die sonst so schlanke Kollegin plötzlich 10 Kilo mehr auf den Rippen hat und wie ein Mops durchs Büro schwabbelt.

Lästern – meine Leidenschaft

Die große Schwester vom „internen Lästern“ ist das „externe Lästern“, auch bekannt als Klatsch und Tratsch. Dies ist wiederum aufgeteilt in

  • a) Lästern über Bekannte, Freunde, Kollegen und
  • b) Klatsch und Tratsch über Promis jeglicher Couleur.

Wir ergötzen uns daran, dass Jennifer Aniston auch Cellulite hat, dass Nicolas Cage pleite ist und Madonna, wie peinlich ist das denn, mit 20jährigen Jünglingen rummacht. Wir sind entzückt, wenn die sonst so schlanke Kollegin plötzlich 10 Kilo mehr auf den Rippen hat und wie ein Mops durchs Büro schwabbelt, freuen uns diebisch, wenn die Beförderung vom Kollegen doch nicht geklappt hat und finden es herrlich, wenn die nervige Schwägerin vom Freund verlassen wurde. Wie die Elstern stürzen wir uns mit diebischer Freude auf die Bad News, die die anderen betreffen. Wenn Sie in einem Straßencafé in einer deutschen Innenstadt sitzen – belauschen Sie mal die um Sie herum sitzenden Gäste. Fast alle Gespräche drehen sich immer nur um Klatsch und Tratsch. Die meisten regen sich über Kollegen auf, und ständig hört man Sätze wie „Und dann hat die das gemacht …“ oder „Und dann hat der das gesagt …“. Es geht immer nur um andere und wie dumm und dämlich die sind. Komisch, oder?

warum lästernDie Yellow-Press

Nicht zu vergessen die Groß-Industrie, die mit professionellem Klatsch und Tratsch ihr Geld verdient. Gala, Bunte, BILD, RTL exclusiv und VOX prominent – sie alle versüßen uns lange Wartezeiten im Arztzimmer oder so manchen verregneten Sonntagabend. Dass wahrscheinlich keine der dort erzählten Geschichten stimmt, ist uns völlig wurscht. Und meistens wissen wir das auch. Dennoch bilden wir uns auf dieser fragwürdigen Grundlage eine Meinung über Angelina Jolie (magersüchtiges Biest!), Jennifer Lopez (arrogante Diva!) und Mel Gibson (kaputter Säufer!). Wir plappern all die Stories weiter und bilden uns ein, diese Menschen und ihr Leben zu kennen und über sie urteilen zu können, ohne sie jemals getroffen zu haben. Da frage ich mich manchmal:

Wer glauben wir eigentlich, wer wir sind? Und warum interessiert uns das Leben der anderen, und insbesondere das der Promis, so sehr?

Man muss auch mal gönnen können! Oder?

Auch können die wenigsten Menschen anderen Menschen ihr Glück oder ihren Erfolg gönnen. Ich mache selbst immer wieder die Erfahrung als selbständige Unternehmerin, die den illustren Kreis oft dämlich gackernder Angestellten-Hühner verlassen hat und nun ihr eigenes Ding durchzieht, dass die ehemaligen Kollegen und Weggefährten dies mit dem allergrößten Argwohn beobachten und wie die Hyänen nur darauf warten, dass ich scheitere, damit sie dann mit ihrer Häme über mich herfallen können. Wenn es nicht so unschicklich wäre, würden sie alle laut grölen:

Wir wolln dich scheitern sehn, wir wolln dich scheitern sehn, wir wolln, wir wolln, wir wolln dich scheitern sehn!

Ist es Zufall, dass es „Scheiterhaufen“ heißt, auf dem die Hexen (ebenfalls Menschen, die nicht den gesellschaftlichen Zwängen entsprachen) früher verbrannt wurden … ? Und nicht nur mir geht es so. Jeder, der sein eigenes Ding macht, bekommt dies immer wieder zu spüren. Und wenn ein aus der dummen Herde ausgeschertes Schaf tatsächlich mal auf die Fresse fliegt, oh, dann meckert und blökt die Herde aber sowas von genüsslich, wochenlang und ohne Erbarmen: „Haste schon gehört? Der Karl ist mit seiner Firma pleite gegangen!“ – „Ja, das hätte ich dir gleich sagen können, der kann doch eh nichts!“ – „Geschieht ihm Recht, er wurde auch immer arroganter!“. Die Herde ergötzt sich an der Pleite, gnadenlos. Die Herde hält sich selbst klein: Kein Schaf will, dass ein anderes Schaf die tollere Karriere macht, glücklicher ist, mehr Geld verdient, die bessere Beziehung führt, besser aussieht etc. Scheitern ist also die gerechte Strafe, und die Herde reibt sich die Hände.

Die Herde ergötzt sich an der Pleite, gnadenlos.

Ich wette, würde man an die Köpfe der Menschen Lautsprecher anbringen, und würde man hören können, was die Menschen den lieben langen Tag so denken, wäre es eine ziemlich frustrierende und niederschmetternde Erfahrung:

Bei den meisten Menschen wären 85% Prozent ihrer Gedanken von niederträchtiger Natur. Ihre Gedanken kreisen sich immer nur um die anderen – wie blöd die sind, wie hässlich, wie dumm, wie unfähig und überhaupt. Dazu kommt dann immer noch eine schöne Garnitur aus Eifersucht und Neid, und wenn dieser Gedankengiftcocktail explodieren würde, würde an den Stellen, wo der graue Gedankenlästerschleim den Boden berühren würde, jedenfalls kein Gras mehr wachsen. Das ist meine Theorie: Die meisten Menschen sind ziemlich hässlich, so innen drin. Ich schließe mich da übrigens nicht aus. Doch warum ist das so? Warum können wir nicht wie die Glücksbärchis durchs Leben hüpfen und alles und jeden einfach mal schön und toll finden?

Haste schon gehört?

Das zugeraunte „Haste schon gehört?!“ der Kollegin versetzt uns in helle und freudige Aufregung, und wir wollen die News sofort erfahren. Meistens reagieren wir dann mit einem „Nee?! Echt?! Krass!!“. Wir lästern über alles und jeden, ob es gute oder schlechte Dinge sind, immer wieder stellen wir uns erhaben da: „Die hat sich selbständig gemacht, kann sie eh nicht.“ Oder: „Die will abnehmen hah, schafft sie doch eh nicht!“. Oder: „Sie hat echt viel abgenommen. Naja, das wird sie nicht lange halten können!“ Oder: „Er geht jetzt eine Schauspielschule – uh, lächerlich!“ Oder: „Sie ist jetzt Model – ach, die sind doch eh alle blöd, und zu mehr als ´nem Katalogmodel wird die das auch nicht schaffen.“ Oder: „Sie ist schwanger, von dem Idioten!“ Oder: „Er hat seinen Job verloren – Höhö, Schadenfreude!“. Wir maßen uns an, zu meinen, die Leute um uns herum sofort in Schubladen zu packen. Die Nachbarin grüßt nicht? Das ist aber auch eine arrogante Kuh. Dass vielleicht gerade ihr Sohn gestorben ist und sie nur mit halber Kraft durchs Leben taumelt, können wir nicht ahnen. Und trotzdem kriegt sie unbarmherzig den Stempel von uns aufgedruckt.

Die Evolution ist Schuld!

Aber warum sind wir so? Ich kann es mir nicht anders erklären, außer, dass es dafür mit Sicherheit einen biologischen Grund gibt, der irgendwo in der steinzeitlichen Evolutionsgeschichte der Menschheit begründet liegen muss. Ich habe mal irgendwo gelesen, dass Klatsch und Tratsch wichtig sei für das Sozialgefüge der Menschen. Und es sei so etwas wie das gegenseitige Lausen bei Affen. Der Verhaltensforscher Desmond Morris formulierte es so:

Unter Affen hat das Lausen dieselbe Bedeutung wie ein nichtssagendes Gespräch unter Menschen. Wichtig ist nicht, was man sagt, sondern dass man etwas redet. Es vermeidet im Stillschweigen schwelende Feindschaften und schafft ein Gefühl der Verbundenheit.

Und Verbundenheit war in der steinzeitlichen Steppe eben immer auch ein extrem wichtiger Faktor für die Überlebenssicherung. Man konnte es sich nicht leisten, aus der Gruppe auszuscheren und allein da zu stehen. Man musste wissen, wer mit wem gut kann, wer nicht gut angesehen ist und vor wem man sich in Acht nehmen musste. Tratschen erfüllte also doppelten Zweck:

  1. Informationen unter der Hand über die Stammmitglieder austauschen und
  2. darüber die Bande zwischen den Tratschenden zu stärken.

Wissenschaftliche Forschung zum Tratschen

An der schottischen Universität St. Andrews wurde vor einigen Jahren sogar eine Tratsch-Studie durchgeführt. Dabei kam heraus, dass all der Gossip viel besser im Gedächtnis bleibt als sachliche Informationen. Das menschliche Hirn liebt Klatsch und Tratsch regelrecht! Es speichert Informationen aus Klatschgeschichten über Bekannte und Freunde sehr viel präziser ab als sachliche Informationen, haben die Wissenschaftler nachgewiesen. Und warum? Die hohe Priorität, die das Gehirn solchen meist eher unzuverlässigen Informationen einräumt, würde dabei helfen, sich im sozialen Umfeld zurechtzufinden. Denn nur wer richtig einschätzt, welche Gruppe gerade mit welcher anderen verbündet oder verfeindet ist, kann seine eigene gesellschaftliche Stellung behaupten. Klatsch und Tratsch also als Machtinstrument.

Das menschliche Hirn liebt Klatsch und Tratsch regelrecht!

Lästern macht Spaß

Und ja, ich gebe zu: Lästern macht Spaß! Und wie! Sich über die vermeintlichen Fehler der anderen zu echauffieren und rumzugackern ist einfach herrlich. So richtig schön pikant wird es dann, wenn wir mit der einen Freundin über die andere Freundin lästern und dann, eine Woche später, mit der anderen Freundin über die eine Freundin. Hinterrücksiges Doppelkopflästern nennt man das. Und glauben Sie ja nicht, dass die eine Freundin und die andere Freundin Sie mit Lästerattacken verschonen, sie werden nämlich genauso betratscht und beklatscht, darauf können Sie Gift nehmen.

Sollten wir also, rein aus überlebenstechnischen Gründen, besser gar kein guter Mensch werden?

Eben klingelte es an der Türe. Der Postmann. Boah, sah der komisch aus!

Rulebreak-Faktor: HOCH

  • Lästern ist gemein und kontraproduktiv. Das macht man wirklich nicht. (Aber es macht leider sehr viel Spaß.)
  • Schon Goethe mahnte an, dass jeder doch vor seiner eigenen Haustür fegen solle. Und wenn Goethe das sagt, dann ist das richtig.
  • Rulebreaking in diesem Falle wäre es, einfach mal nicht zu lästern. Und sich aus dem allgemeinen Klatsch und Tratsch rauszuhalten. Und hier lieber die 3 Siebe des Sokrates (Ist, das, was du mir erzählst, wahr, weise, gütig?) anwenden.