Werden wir in Zukunft Online Lernen? | Lehren aus China

Quarantäne – Leben und Lernen in China in Zeiten von Corona

Als Deutscher Dozent in China leben

Das Lernen nach Corona – eLearning?

Hier sehen Sie ein Interview mit dem Philosophen Norman Schultz PHD, der derzeit in China an der Jinan Universität unterrichtet.

Es geht um

  • die Erfahrungen in der Quarantäne von über zwei Monaten und die aktuellen Ereignisse rund um den Coronavirus in China (CoVid19)
  • dem Leben als Deutscher als Dozent an einer chinesischen Universität
  • und eine mögliche Zukunft, wie Zukunft der Bildung aussehen könnte.

Im unteren Teil des Artikels beschreibt Norman Schultz, welche Mängel er derzeit in der aktuellen (deutschen) Bildungslandschaft als vernachlässigt erachtet und dann, welches seine Thesen zum Lernen der Zukunft, insbesondere dem Online-Lernen (eLearning) sind:

Die größten Mängel der Bildung

Obwohl mir dies bewusst ist, fallen mir zwei Dinge ein, die mich schon seit langer Zeit stören:

Zuwenig Mathematik

Meine erste Beobachtung ist, dass wir Mathematik in Deutschland vernachlässigen. Vielleicht sind wir nicht schlechter geworden, aber andere bevölkerungsstarke Länder sind besser geworden. Mathematik verbessert die generelle Intelligenz und obzwar diese nicht alles im Leben ist, ist sie doch in der Bildung nicht zu vernachlässigen. Ich bin Philosoph und unterrichte gerade Britische Literatur. Ich weiß sehr wohl um die Einflüsse der Literatur und auch um die „schönen Künste“. Dennoch aber glaube ich, dass diese ohne eine gute Fundierung in der generellen Intelligenz an Wert einbüßt und zwar dramatisch.  Viel zu oft wird die Mathematik als Gegenspieler der schönen Künste verstanden, was ich verhängnisvoll finde. Dieses führt womöglich dazu, dass viele in unserer Gesellschaft, die Schönheit der Mathematik selbst nicht erkennen können und sich selbst zuschreiben eben mathematisch nicht begabt zu sein. Das glaube ich nicht. Ich glaube jeder kann die Schönheit der Mathematik erkennen. Da diese Menschen, dann oftmals gegen die Mathematik argumentieren, verpassen wir Bildungschancen. Ich glaube tatsächlich, dass wer sich mathematisch bildet auch gleichzeitig seine Bildung in anderen Bereichen intensiviert (zumindest ist das ein sehr platonisches Verständnis von Bildung).

Zuwenig Musik

Zweites, aus meiner internationalen Erfahrung weiß ich auch, welche Kraft in der universelleren Sprache der Musik liegt. Ich habe selbst in Kirchen in den USA Klavier gespielt, Ensembles begleitet, auf Hochzeiten und Banquets gespielt. Das Instrument hat mir eine universelle Kommunikation ermöglicht und mich mit anderen Menschen tief verbunden. Als ich in China eine Gaststunde vor Grundschülern gegeben habe (wir haben zusammen „Freude schöner Götterfunken“ von Beethoven gesungen), kannten alle Grundschüler den Namen von Beethoven. Ich zeigte ihnen sein Bild. Musik ist eine universale Sprache und es ist tragisch, dass wir Deutschen und Österreicher diese reichhaltige Sprache besitzen, aber viele kein Instrument in ihrer Kindheit lernen. Beethoven und Mozart sind Exportschlager und andere Kulturen erkennen uns dafür an, weil diese Musik tiefe Wahrheiten enthält. Zudem führt auch das Erlernen eines Musikinstruments zu verbesserten kognitiven Leistungen und im Gegensatz zur Mathematik wirkt sich dies auch auf die emotionale Intelligenz direkt aus.

Ich bin selbst nicht gerne zur Schule gegangen, bin sitzen geblieben (erst später habe ich mein Studium mit Auszeichnung bestanden und habe an der weltbesten Universität für Philosophie studiert).

Schule war vor allem oberflächlich. Obwohl ich mittlerweile recht hochwertig Musik betreibe (wie zum Beispiel viele befreundete professionelle Musiker anerkennen), habe ich zum Beispiel Musik in der sechsten Klasse nicht verstanden. Ich hatte eine 5, weil ich nicht wusste, was diese Noten sollten (mittlerweile kann ich sehr gut Blattspielen, Noten sind kein Problem). Schule verlangt auf der einen Seite zu viel von uns (viele Fächer) und auf der anderen Seite zu wenig (die Fächer werden oberflächlich, weil man nur eine Sitzung pro Woche hat). Meine Hauptidee ist daher, dass wir die Schule auf Kernkompetenzen reduzieren sollten und damit Freiraum für eigenständige Bildung schaffen. Generell denke ich, dass Schule freier werden muss, ohne dass wir dabei die Grundmauern unserer gegenwärtigen Bildung einreißen.

Online lernen – 10 Thesen

Ich glaube wir sollten Online-Lernen anerkennen, allerdings zeigen sich hier bereits einige Probleme, die ich auch andiskutieren möchte:

  1. Der Einsatz von Online-Lernen wird zu einer Amazonisierung des Lernens führen. Da im Internet das Prinzip herrscht, dass der Gewinner alles beherrscht (winner takes it all), steuern wir auf die Existenz einer großen Online-Universität zu. Wie wird uns ein Harvard des Internets weiter verändern?
  2. Online Lernen wird den Prozess der Bildung anonymer machen. Die damit erreichte Gleichheit wird die individuellen Eigenschaften der Teilnehmer nivellieren (das meine ich auch im negativen Sinn)
  3. Teilhabe ist zwar unabhängig vom Ort aber abhängig von weiteren Bildungsressourcen. Wer technisch gut ausgestattet ist, hat sogleich Vorteile. Aber auch die unsichtbare Konkurrenz wird zu noch höherem Individualdruck beim Lernen führen, ohne diesen sozial im Miteinander mit Mitschülern ausgleichen zu können.
  4. Mit Online-Lernen wird weiterhin sichtbar werden, wie wir als Mienen der Kreativität ausgebeutet werden. Mit der Dezentralisierung der Universität wird unsere Aufmerksamkeit und Kreativität zu jedem Moment gefordert sein, vor allem weil der unsichtbare Konkurrent nicht schläft. Unsere Aufmerksamkeit ist eine ausbeutbare Ressource, Freizeit und Ferien werden unter Ausbildungsdruck weiter in ihrem Wert reduziert werden.
  5. Wir werden noch effektiver ausgebeutet werden. Nun gelten wir als Bildungskonsumenten, die statistisch die Grundbausteine einer neuen Internetindustrie bilden.
  6. Mit der massiven Beteiligung von anonymen Konkurrenten wird der Ausbildungsprozess noch stärker mechanisiert werden. Selektion der Besten ist im Online-Geschäft einfacher.
  7. Mit der neuen Marktmacht werden die führenden Online-Universitäten die Legitimationsmacht für Forschung haben. Dies macht Forschung noch einfacher politisierbar und als Machtinstrument einsetzbar. Studenten werden sich nicht mehr im öffentlichen Raum als physische Körper wehren können.
  8. Eine Misskonzeption ist, dass Institutionen für Bildung da sind, während man den versteckten Lehrplan der Angleichung übersieht. Online Universitäten werden diese versteckte Unterdrückung noch akkurater und subtiler durchführen können, vor allem durch die produktive Einbeziehung der Konsumenten. Der Konsument wird sich durch seinen reflexartigen Ausbildungshunger selbstständig unterdrücken.
  9. Online-Lernen wird den Professor ebenso exponierter und angreifbarer machen. Dadurch wird die Beziehung zu den Studenten und Bildung mechanisiert.
  10. Online Lernen wird uns weiter entkörpern. Wenn die wirkliche Welt nicht mehr die wirkliche Welt ist, sondern wir uns permanent selbst von uns abspalten, um Onlinezertifikate zu sammeln und eine andere Existenz aufbauen, so wird dies Effekte auf unsere Körperwahrnehmung haben. Wir werden noch weniger wir selbst sein und noch mehr als soziale Rüstung (Zertifikate, Zeugnisse, etc.) leben. 
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